The Allman Brothers Band: At Fillmore East
Es gibt Livealben, die man hört, und es gibt Livealben, die einen in einen Raum versetzen, den man nie betreten hat. At Fillmore East gehört zur zweiten Sorte. Dieses Album wirkt wie eine Zeitmaschine. Es ist nicht nur ein Konzertmitschnitt, es ist ein Beweis dafür, dass Magie tatsächlich einfrierbar ist. Wer hören will, wie Musik lebt und atmet, der findet hier die reine Essenz davon. Du spürst die Wärme des New Yorker Sommers, du riechst förmlich das altehrwürdige Fillmore, du sitzt musikalisch mitten zwischen Gitarrenverstärkern, Hammond-Leslies und diesem rhythmischen Puls, den nur die Allman Brothers konnten.
Die Magie dieser Aufnahmen liegt auch darin, dass man den Moment spürt. Die Band wusste, dass sie auf dem Höhepunkt ihres Könnens war. Man hört den Hunger, das Selbstbewusstsein, die Spielfreude. Keine Sekunde wirkt kalkuliert. Das Album ist ein Dokument echter Freiheit und zeigt, was passiert, wenn Musiker sich trauen, einfach alles rauszulassen.
Die Band war zu diesem Zeitpunkt etwas völlig Neues. Zwei Lead Gitarristen, die sich auf Augenhöhe ergänzten. Zwei Schlagzeuger, die keinen Lärm machten, sondern ein sich ständig bewegendes rhythmisches Gewebe webten. Und dazu ein Bassist, der wie ein Dirigent aus dem Hintergrund alles zusammenhielt. Kompromisslos, keine Showeffekte, kein Blenderzeug, nur purer musikalischer Instinkt. Duane Allman und Dickey Betts klingen hier wie zwei Gitarristen, die nicht bloß im selben Raum stehen, sondern im selben Gedankengang. Die langen Improvisationen sind keine Egotrips, sondern Gespräche, die sich aufschaukeln.
Duane Allman spielte hier auf einem Niveau, das man eigentlich nur als überirdisch beschreiben kann. Sein Slidespiel war wie eine menschliche Stimme. Fließend, warm, voller Seele. Er ließ die Saiten singen, weinen, jubeln. Viele spätere Gitarristen haben versucht, diese Eleganz und Intensität zu kopieren. Kaum jemand hat sie je erreicht. Dickey Betts setzte dazu glasklare Melodien und feine harmonische Linien, die zeigen, wie weit diese beiden Gitarristen dachten. Nicht gegeneinander, sondern miteinander. Das war eine Revolution.
Man muss auch über die Rhythmussektion reden. Jaimoe und Butch Trucks bildeten zusammen eine Art rollendes Gewitter. Zwei Schlagzeuge, die nicht konkurrierten, sondern sich umspielten. Zwei Pulsgeber, die der Band eine enorme Tiefe gaben. Berry Oakley am Bass klebte nicht wie üblich an der Grundnote. Er bewegte sich melodisch, setzte Gegenlinien, schuf Wege, auf denen die Gitarren laufen konnten. Und wenn Gregg Allman die Orgel anwirft, legt sich ein Schimmer über alles, der heute fast nostalgisch wirkt. Diese Formation brachte einen Sound hervor, der bis heute einmalig ist. In dieser Form war das damals absolut neu.
Und dann sind da natürlich die Songs, jeder für sich ein Kapitel Rockgeschichte.
Statesboro Blues eröffnet das Album mit einer Wucht, die dich sofort packt. Duanes Slide klingt wie ein elektrisches Messer, das durch die Nacht schneidet.
Done Somebody Wrong ist rau und direkt, ein musikalischer Faustschlag.
Stormy Monday zeigt die ganze jazzige Eleganz der Band. Hier wird spürbar, wie viel Musikalität in diesen Spielern steckte. Kein Ton zufällig.
You Don’t Love Me wächst zu einer Improvisationsreise an, die dem Jazz näher ist als dem Blues.
Und natürlich das Monument Whipping Post. Eine halbe Stunde Spannung, Energie, Freiheit. Ein Stück, das man eigentlich nicht beschreiben kann, weil es komplett im Moment passiert.
Dieses Album zeigt, was passiert, wenn eine Band absolute Freiheit besitzt und gleichzeitig fest verwurzelt ist. Nichts wirkt geplant, aber alles ergibt Sinn. Es ist der Sound einer Gruppe, die gerade entdeckt, dass sie etwas kann, das niemand anderes kann. Und es ist der Sound eines Genies, denn Duane Allmans Spiel hat Generationen von Gitarristen geprägt. Sein Einfluss reicht bis heute.
Für mich ist At Fillmore East ein Meilenstein. Für viele ist es das beste Livealbum, das je aufgenommen wurde. Für die Hall of Fame ist es der perfekte erste Eintrag.
Hintergrund Info:
Die Allman Brothers hatten sich in den Jahren davor vor allem auf ihre Bühnenpräsenz verlassen, Studios waren ihnen schnell zu beschränkt. Im Vorfeld sagte etwa Gregg Allman, dass sie beim nächsten Album „das natürliche Feuer“ aufnehmen wollten, das live entsteht.
Die zwei Schlagzeuger Jai Johanny „Jaimoe“ Johanson und Butch Trucks sind nicht einfach ein Gimmick: Sie schaffen gemeinsam mit Bassist Berry Oakley und dem Orgelspiel von Gregg Allman ein rhythmisches Fundament, das enorm groovt und gleichzeitig Raum lässt für die zwei Lead-Gitarristen. Der Slide von Duane Allman wird hier zu einer Stimme und stellte Maßstäbe auf: aggressiv, melodiös, kompromisslos. Dickey Betts liefert ergänzende Gitarre-Arbeit, die zeigt, wie strategisch und musikalisch durchdacht dieses Setup war.
Die Wahl des Fillmore East war kein Zufall: Die Location war für Live-Musik in den USA eine Ikone, und die Aufnahmen fanden in atmosphärisch geladenem Rahmen statt, drei Nächte im März 1971, wovon zwei für das Album verwendet wurden.
Das Album gilt als Durchbruch: Nicht mehr nur Live-Band unter vielen, sondern eine Formation, die live so stark war, dass das Konzert selbst zum Werk wurde. Kritiker und Fans sprechen bis heute davon, dass hier „eine Band im Moment“ eingefangen wurde – mit allen Höhen und Tiefen. Die Kombination aus Blues, Rock, Jazz-Anklängen und Improvisation machte es zu einem Meilenstein.
Album Info:
Titel: The Allman Brothers Band - At Fillmore East
Aufnahme: 12. und 13. März 1971 im Fillmore East, New York.
Veröffentlichung: 6. Juli 1971 (USA)
Label: Capricorn Records (USA)
Produktion: Tom Dowd
Format: Ursprünglich Doppel-LP mit 7 Titeln auf vier Seiten.
Chart & Auszeichnungen: Erreichte Platz 13 der US Billboard Charts. Wurde zertifiziert Gold im Oktober 1971 und Platin im August 1992.
Genre: Bluesrock, Southern Rock, Jam-Band
